Zu viele Männer

Lily Brett


Geschichten über den Holocaust lese ich normalerweise im Winter. Zu unpassend scheint mir das Schicksal all der Toten und auch der Überlebenden für den Strand. Aber über Edek, einen 81-jährigen Überlebenden des Todeslagers Birkenau, lässt es sich auch im Schwimmbad lesen. Denn seine erste Reise in die alte Heimat Polen ist nicht nur schockierend und traurig, sondern auch unverhofft witzig und rührend. Es darf auch gelacht werden!


Ruth Rothwax hat Ticks. Zum Schutz vor drohenden Gefahren blinzelt sie gern fünfmal mit dem linken Auge oder tippt zehnmal mit den rechten Fuß auf. Sicher ist sicher. Ruth Rothwax hat aber auch Eltern, die den Genozid an den Juden im zweiten Weltkrieg überlebt haben. Und um herauszufinden, wie viel das mit ihren Ticks zu tun hat, hat sie schon viele Therapeuten in New York City bezahlt.

Mit dreiundvierzig, besessen vom Laufen und Gewichtheben, seit ihrer Jugend auf Diät, schleppt sie ihren Vater Edek mit auf eine Reise nach Polen. Auf der Suche nach denen, die nicht mehr da sind, findet sie zwar keinen Frieden und viele verachtenswerte Polen, aber auch ein Stück Identität und das Porzellan ihrer Großmutter.

Was Ruth und ihr Vater in Polen, der alten Heimat Edeks und seiner verstorbenen Frau Rooshka, erleben, macht betroffen. Die Latrinen in Birkenau lassen nicht nur Ruth sich übergeben, mir wird beim Lesen schlecht. Die unverfrorene Habgier der Menschen, die die Wohnung von Edeks Eltern in Besitz genommen haben und sich heute noch mehr als im Recht fühlen, schnürt mir die Kehle zu. Und wenn dann noch ein laut polternder Badegast in leider zu kleiner Entfernung laut aus einem Kronen-Zeitungs-Artikel über Einwanderer vorliest und mit stolzgeschwellter Brust verkündet: „I hoss die ganzen Tiakn! Wenn i den nächsten siag...“, treibt es mir die Tränen in die Augen.

Aber wenn dann Edek seine wütende Tochter mit seinem etwas eigenwilligen Einwanderer-Englisch beruhigt („Reg dich runter, Ruthie!“), dann kann auch ich wieder schmunzeln. Offensichtlich gibt es nicht nur in Polen sondern auch am Neufeldersee „Bißbrüder“ und „Gezündel“ (mehr Schimpfwörter hat Edek nicht auf Lager).

Ich liebe dieses Buch. Aber was es meiner Meinung nach nicht gebraucht hätte, ist Ruths stille Zwiesprache mit der Stimme von Rudolf Höß, dem einstigen Lagerkommandanten von Auschwitz. Ich bin nicht ganz dahinter gekommen, was mir das sagen will, aber es ist gut zu wissen, dass er in der Hölle schmort – besser gesagt im Zweiten Himmelslager – und dort ein Sensibilitätstraining absolvieren muss.


Lieblingszitat (eines von vielen):
„Niemand will sich eingestehen, daß Tantchen oder Onkel, Opa oder Oma Mörder gewesen sein könnten. Niemand will wahrhaben, dass die eignen Eltern von der Ermordung anderer Leute profitiert haben könnten. Leute, die man kennt, will man nicht in so einem Licht sehen.“ Sie hielt inne, um Luft zu holen. „Niemand will wahrhaben, dass irgend jemand zu diesen Dingen fähig war“, sagte sie. „Zu all diesen Morden. Zu all diesem Haß.“
                              


1 Kommentar:

  1. Klingt super und interessant! Nehm ich in meine "zu lesen"-Liste auf ;-)

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