Zuhause ist überall

Barbara Coudenhove-Kalergi

"Die Tschechen, das sind für uns die 'kleinen Leute'. Etwas unwiderstehlich Komisches haftet ihnen an. Man mus immer lachen über sie. Der derbe Witz ihrer Sprache ist eine unerschöpfliche Quelle des Vergnügens. Eigentlich alles, was man auf Tschechisch erzählt, ist komisch, schon dadurch allein wird eine Geschichte witzig. Etwas Erhabenes oder gar Pathetisches auf Tschechisch zu sagen ist praktisch unmöglich, und wenn es jemand versucht, ist es erst recht lächerlich.
Noch Jahrzehnte später, als ich auf einer Prager Bühe ein Shakespearestück auf Tschechisch sehe, muss ich eine gewisse Lachlust unterdrücken und mich fragen: Warum kommt es dir eigentlich komisch vor, wenn Hamlet tschechisch spricht und nicht englisch oder deutsch? Etwas von der alten österreichischen Herablassung gegenüber dem 'Dienstbotenvolk' liegt in dieser Haltung, die die Deutschböhmen und Österreicher auch noch Generationen nach dem Zerfall der k. u. k. Monarchie verinnerlicht haben. Noch heute ist das Böhmakeln auf jeder Wiener Theaterbühne ein garantierter Lacherfolg. Andererseits ist der tschechische – wir sagen böhmische – Humor tatsächlich, wie der englische, etwas Besonderes: plebejisch und direkt, respektlos, immun gegen Prätentionen und vornehmes Getue. Und haarschaft treffend. Er ist die Waffe eines unterdrückten Volkes, in Jahrhunderten herausgebildet, gege seine fremden Herren."

"Sein großer Moment kommt, als er als Fünfzehnjähriger seinen ersten Rehbock schießen darf. Es ist auf dem sogenannten Grangler, Großpapas Revier im Lungau, und Jakob darf mit dem Jäger Peter auf die Pirsch gehen. Er erzählt uns später mit leuchtenden Augen, wie das war. Frühmorgens auf dem Berg, ein kapitaler Bock tritt aus dem Wald, Jänger Peter sagt: Schieß – und Jakob trifft perfekt. Blattschuss. Seligkeit. Eine Woche später, Jakob ist zurück in Prag, wird er als Luftwaffenhelfer eingezogen und nach Jugoslawien geschickt. Er wird einer Flakbatterie zugeteilt und schießt jetzt auf amerikanische Flugzeuge. Ende einer Kindheit."

"Den Führer zu lieben, wie es ein deutsches Mädel sollte, fällt mir zum Beispiel schwer ('dieses G'sicht...'). Am ehesten kann ich mich noch mit dem berühmten Bild befreunden, auf dem Adolf Hitler als Gralsritter zu Pferde dargestellt ist, in silberner Rüstung, eine Lanze in der Hand. Ritter ist immer gut."

"Ich fahre mit der Elektrischen. Der Zug ist voll. Ich sitze am Fenster. Eine alte Frau steigt ein, den Judenstern auf dem Mantelaufschlag. Wir sind von klein auf dazu angehalten worden, älteren Leuten unseren Platz zu überlassen. Ich fühle akutes Unbehagen. Was jetzt tun? Aufstehen, der Frau meinen Sitz anbieten? Darf sie sich überhaupt hierhersetzen, mitten unter die anderen Leute? Will sie das? Ich wähle einen Kompromiss. Stehe auf, tue so, als ob ich aussteigen wollte. Drücke mich auf die hintere Plattform. Ich fühle mich feige und unglücklich. Und bin erleichtert, als die Frau bei der nächsten Station aussteigt."

"Auch wir applaudieren, aber einem unserer Mitreisenden, einem mitelständischen Unternehmer aus Vorarlberg, reicht allmählich die antikapitalistische Agitation. Wie komme er dazu, beschwert er sich, ständig als Ausbeuter und Arbeiterfeind bezeichnet zu werden? Er arbeite schließlich auch hart und behandle seine Leute anständig. Wir sehen in Maos Werken nach und finden dort die Unterscheidung zwischen 'Kleinbauer' (gut), 'Großbauer' (schlecht) und 'Mittelbauer' – einer, der andere für sich arbeiten läasst, aber auch selber zupackt – (akzeptabel). Fortan stellt sich Herr Zumtobel überall als 'Mittelbauer' vor."

"Zu mir sagt sie: Drüben musst du unbedingt meinen Vater kennenlernen. Der wird dir gefallen. 'Drüben' ist der Himmel, in den sie eines Tages so selbstverständlich hinübergehen will, wie man von einem Zimmer ins andere geht. Kurz vor ihrem Tod habe ich Schwester Miriam noch einmal besucht. Sie war meistens geistig abwesend, hatte dazwischen aber immer wieder klare Momente, in denen sie Besucher erkannte. In einem dieser Momente meinte sie, mit einem Ausdruck freudiger Spannung: Mit mir geht es ja jetzt erst richtig los."

"Ich komme in den folgenden Jahren noch öfter nach Pertlstein und sehe jedes Mal, wie die Kommunität kleiner und kleiner wird. Beim letzten Mal gehe ich über die Obstplantage, die mittlerweile verpachtet ist, hinüber zum Friedhof. Er liegt abgeschieden unter hohen Bäumen. Ich muss Gras und Gesträuch mit den Händen von den Grabsteinen wegschieben, um die Inschriften lesen zu können. Es hat niemand mer die Zeit und die Kraft, um diesen Friedhof in Ordnung zu halten. Hier gibt es jetzt mehr Gräber als Nonnen im Konvent. Ich suche auf den überwachsenen Steinen die Namen der Frauen, die mir liebgeworden sind. Cäcilia und Basalia, Maria Antionia und Gregoria, Miriam und Martha. Sie sind, so hoffe ich, jetzt alle 'drüben'."

"Am Schluss lässt er sich – nach Rücksprache mit seiner bärbeißigen Frau, einer 'Klafte', wie Franz gesagt hätte – dann doch nicht filmen. 'Nisch fir ins.' Aber gleichsam zum Trost repariert er voller Freundlichkeit und höchst kompetent meine kaputten Sandalen, wobei er die Tatsache, dass er dafür kein Geld nehmen will, vor seiner Frau geflissentlich verschweigt."

"Auch außerhalb des Judenviertels bekam man mit, was sich in der Judengemeinde abspielte, und nahm Anteil daran. So etwa an der Aufregung, die herrschte, als Heini Deutsch eines Tages in die Mikwe pinkelte. Ein wirklich schlimmer Frevel, vergleichbar der Tat eines Ministranten, der in den Weihwasserkessel spuckt. Der Rabbi wurde gerufen. Er veranstaltete unter den jüdischen Buben eine hochnotpeinliche Untersuchung. Warum hatte Heini so etwas verwerfliches getan? Dessen kleinlaute Antwort: weil ich so dringend müssen hab. Nächste Frage: ob der verhängnisvolle Strahl 'gerade' gekommen war oder 'im Bogen'. Einhellige Antwort: im Bogen. Damit war Heini überführt. Er hatte nicht 'dringend müssen'. Diese scharfsinnige Schlussfolgerung wurde bewundert und erregte Staunen und Anerkennung bei Jud und Christ. Der Rabbi, das war klar, war ein weiser Mann."

"Als ich spätabends über die Moldaubrücke zu meiner Dienstwohnung fahre, weiß ich: Aus dem ständigen Arbeitsquartier in Prag wird nichts. Ich bin dienstlich hier, auf Besuch, aber ich bin nicht zurückgekommen. Es gibt kein Zurückkommen. Die Vertreibung war endgültig."

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