Der Hase mit den Bernsteinaugen

Edmund de Waal
(aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer)


Ich liebe Biografien – wahre Geschichten von Menschen, die etwas erlebt haben, das sich zu erzählen lohnt. Und wenn ich dann noch sozusagen gratis etwas Bildung (die ich in geschichtlicher Hinsicht schmerzlich vermisse) mit dazubekomme, umso besser! Die Familiengeschichte von Edmund de Waal hat mir – obwohl mitunter ohne die erwähnte geschichtliche Bildung etwas mühsam zu lesen – alles gegeben, was ich mir von einer Biografie erwarte.



Die Familie Ephrussi stammt ursprünglich auch Polen. Ihren finanziellen und gesellschaftlichen Aufstieg schafft allerdings Charles Joachim Ephrussi in Odessa. Durch Weizenhandel reich und bedeutend geworden, gründet er das Bankhaus Ephrussi und entsendet seine Söhne nach Wien und Paris. Und in Paris beginnt auch die Geschichte des Hasen mit den Bernsteinaugen.

Dabei handelt es sich um ein Netsuke, eine kleine japanische Schnitzerei, die Charles – Enkel des Familienoberhaupts, Kunstliebhaber und Sammler – im Paris Ende des 19. Jahrhunderts zusammen mit 263 anderen Figuren kauft. Sie sind gerade in Mode!

Indem de Waal den Weg der Netsuke-Sammlung durch die Jahrzehnte verfolgt, erkundet er seine eigene Familiengeschichte. Dabei erfährt er, dass die Ephrussi in Paris mit Manet, Degas, Renoir, Proust (um nur einige zu nennen) bekannt gewesen sind, oder dass seine Grußmutter Elisabeth in Wien (wohin die Netsuke später als Hochzeitsgeschenk für Cousin Viktor gelangen) einen regen Briefwechsel mit Rilke unterhalten hat.

Und man erfährt als Leser, dass die Ephrussi Juden gewesen sind. Juden, deren Religionszugehörigkeit ihnen genauso wenig wichtig gewesen ist wir mir heute meine. Die Familie ist natürlich trotzdem enteignet und vertrieben worden, die lustigen japanischen Figuren allerdings haben als eine der wenigen der vielen Besitztümer der Familie in der Matratze der nichtjüdischen Haushälterin Anna den Krieg überdauert.

„Der Hase mit den Bernsteinaugen“ ist ein ungewöhnliches Buch. Es strotzt vor Fakten und hält sich zurück mit emotionalen Urteilen. Es zeigt offen und kritisch die Eigenarten einer geradezu schon zu reichen Familie, und es klagt dort, wo es das könnte, nicht an, macht aber durch die objektive Zurückhaltung die Ungerechtigkeit und Ungehörigkeit noch eindrucksvoller.

Für mich war dieses Buch zwar anstrengend, aber trotzdem ein Genuss. Nicht zuletzt, weil ich jetzt jedes Mal, wenn ich am Wiener Schottentor aus der Straßenbahn steige, daran denken muss, dass dieses riesige Haus vis a vis der Universität von den Ephrussi erbaut worden ist und vor dem Krieg nicht nur eine lebenslustige Familie beherbergt hat, sondern auch eine einmalige Netuske-Sammlung.

Lieblingszitat:
„Ich erzähle Sascha, warum wir gekommen sind, dass ich ein Buch schreibe über – ich stocke und halte inne. Ich weiß nicht mehr, ist es ein Buch über meine Familie, über Erinnerung, über mich, oder immer noch ein Buch überkleine japanische Sachen?“

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